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Dauphiné und Mont Blanc

Lohnt es sich, 1200 km mit dem Auto zu fahren, nur um den südlichsten 4000er der Alpen zu besteigen? Meine
Antwort ist ja – unbedingt!
Immer wieder blättere ich in dem Bildband „Himmelsleitern“ von Ralf Ganzhorn und überlege, welche der in dem
Buch beschriebenen Touren könnte ich als nächste durchführen. Als im DAV-Magazin Panorama 4/2013 der
Artikel „Auf Messers Schneide – Große Hochtouren im Écrins-Massiv“ erscheint, sind die letzten Bedenken über
den Sinn eines solchen Unternehmens zerstreut.
Im Juli 2015 ist es dann soweit; die Tourenplanung steht, die Schlafplätze auf den Hütten sind gebucht, und so
machen wir uns auf den Weg gen Süden – wir, das sind Michael, mit dem ich in den letzten Jahren viele Hoch-
touren unternommen habe und ich. Unser dritter Mann Magnus fällt leider mit Knieproblemen aus.
Über Basel, Bern und Martigny erreichen wir Charmonix. Vor uns liegt das Mont Blanc – Massiv majestätisch in
der Abendsonne und lässt unsere Herzen höher schlagen. Sollte diesmal eine Besteigung gelingen, nachdem wir
2011 wegen schlechten Wetters im Monte Rosa – Gebiet geblieben sind? Doch zunächst geht es weiter über
Albertville und – die Tour de France lässt grüßen – in unzähligen Serpentinen über den Col du Telégraphe und
den Col du Galibier (2642 m) zu unserem Ausgangspunkt Ailefroide im Parc National des Écrins.

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Da die ersten Tage der Höhenanpassung dienen sollen, steigen wir zunächst zum Réfuge du Sélé (2511 m) auf.
Bei der Erkundungstour zum Col du Sélé werden wir mit den Folgen des massiven Gletscherrückgangs konfron-
tiert. Durch eine Steinwüste – geleitet von Steinmännchen, die sich im Schein der Stirnlampen oft verlieren –
gelangen wir an den Gletscher, der im unteren Teil einer Schutthalde gleicht. Im oberen Teil haben wir einen
herrlichen Blick auf das nördlich gelegene L’Ailefroide – Massiv.

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(Blick auf das L’Ailefroide-Massiv, Dirk Schulze)

Aufgrund der klimatischen Veränderungen und der damit verbundenen Steinschlaggefahr ist nur noch die Bestei-
gung des Ostgipfels L’Ailefroide Orientale (3847 m) ratsam – für uns eine ideale Eingehtour: meist Gehgelände,
leichte Kletterpassagen und mäßig steile Schneefelder bis ca. 35°.
Nach einem Hüttenwechsel werden wir abends auf dem Réfuge du Pelvoux (2704 m) nicht nur mit einem köstli-
chen Menü (Daube Provencal) überrascht; vor dem Essen gibt der Hüttenwirt ausführliche Informationen über die
Pelvoux-Tour und die aktuellen Verhältnisse auf dem Gletscher, die nach dem Essen aufgrund der Rückmeldung
eines Bergführers noch einmal aktualisiert werden.
So starten wir gut gerüstet und sind anfangs hauptsächlich mit der Wegfindung beschäftigt. Interessant wird es
im Couloir Collidge, das bis 45° steil ist und wo wir im oberen Teil Blankeis vorfinden. Nach 3,5 h stehen wir auf
dem Pointe Puiseux, dem mit 3943 m höchsten Gipfel der Pelvoux-Gruppe, und haben bei bestem Wetter einen
Ausblick auf die Südwand des Écrins. Nach einem Abstecher auf den Nordgipfel Pointe Durance (3932 m) ma-
chen wir uns auf den Rückweg, schlagen zur Sicherheit noch einige Stufen im Eis, steigen ins Tal ab und über-
nachten auf dem idyllisch gelegenen Campingplatz in Ailefroide (13,80 € für 2 Personen).
Am nächsten Tag erfolgt der Aufstieg zum Réfuge des Écrins (3148 m). Vom Parkplatz im Talschluss (2 € für 2
Tage) geht es durch eine beeindruckende Berglandschaft zunächst einmal zusammen mit vielen Tagesausflüg-
lern hinauf zum Réfuge du Glacier Blanc (2550 m), von wo aus man einen tollen Blick auf den Gletscherbruch
hat. Beim weiteren Aufstieg kommen uns etliche gut gelaunte Bergsteiger entgegen. Da wir schon frühzeitig an
der Hütte sind und es zu regnen beginnt, bleibt Zeit für einen kleinen Erholungsschlaf. Am Abend ist die Hütte gut
belegt und wir treffen auf eine größere deutsche Gruppe aus Regensburg. Beim Essen wird – auch mit unseren
französischen Tischnachbarn – über die verschiedenen Aufstiegsruten diskutiert. Wir wollen unsere Entschei-
dung am folgenden Tag am Berg treffen.

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(Barre des Écrins (links) und Dôme de Neige (rechts); Dirk Schulze)


Nach dem Frühstück um 3 Uhr kommen wir als erste an der Hütte los und genießen die Ruhe und den Sternen-
himmel. Bei Sonnenaufgang sind wir schon im Gletscherbruch. Da die Verhältnisse optimal sind, entscheiden wir
uns für die Überschreitung, verlassen die Normalroute und queren nach Osten zum Einstieg in den NO-Grat.
Über einen Eishang gelangen wir an den Fels und stehen vor einem senkrechten Aufschwung, der es in sich hat
und der in der Literatur nicht erwähnt wird. Michael steigt vor und hat schwer zu arbeiten. Kurz danach stehen wir
am „Kamin“, der zum Glück eisfrei und mit einigen Haken versehen ist. Im Gegensatz zu der ersten Steilstufe ein
Kinderspiel! Da der weitere Anstieg am Grat weitgehend schneefrei ist, legen wir die Steigeisen ab und gönnen
uns eine Pause. Hinter uns ist nur noch das französische Pärchen, die anderen Gruppen sind am Einstieg umge-
kehrt. Ausgesetzt, aber nie über dem II. Grad klettern wir am angewärmten Fels weiter und stehen nach 5,5 h am
Gipfelkreuz des Barre des Écrins (4102 m). Die Rundumsicht ist grandios – die Meije zum Greifen nah und der
Mont Blanc am Horizont im Dunst.

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(Gipfel des Barre des Écrins; Dirk Schulze)

Nach einer ausgiebigen Gipfelrast müssen wir beim Abstieg über den Westgrat immer wieder den Gruppen, die
sich noch im Aufstieg befinden, ausweichen und kommen so nur langsam voran.

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(Gegenverkehr auf dem Westgrat; Dirk Schulze)


Zum Schluss finden wir noch eine Abseilstelle vor, die für den Aufstieg mit Fixseilen versehen ist. Nach einem
Abstecher auf den Dome de Neige (4015 m) machen wir uns durch eine beeindruckende Gletscherlandschaft auf
den Rückweg und steigen ins Tal ab. Gerade noch rechtzeitig vor einem heftigen Sommergewitter erreichen wir
das Auto und übernachten wieder auf dem Campingplatz in Ailefroide.
Am nächsten Tag geht es zurück nach Charmonix, wo wir uns über die Verhältnisse am Mont Blanc informieren.
Aufgrund der Wettervorhersage entscheiden wir uns, die „Mission Mont Blanc“ erst am Folgetag zu starten. So
bleibt Zeit für einen Stadtbummel und für Besorgungen.
Da der Normalweg auf den Mont Blanc wegen Steinschlags gesperrt ist, wird es nichts mit der geplanten Über-
schreitung. So kaufen wir ein Seilbahnticket „aller et retour“ für die Aiguille du Midi (57 €), bestaunen die Bebau-
ung des Gipfelfelsens auf rund 3800 m und erhaschen von einer der Aussichtsterrassen einen Blick auf unsere
morgige Tour.

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(Aufstiegsroute zum Mont Blanc von der Aiguille du Midi; Michael Lenzen )

Nach dem Abstieg über den schmalen Schneegrat ins Vallée Blanche und dem Aufstieg zur Cosmiquehütte
(3613 m) bekommen wir ein schönes Lager, drängeln uns an dem einzigen Wasserhahn und bereiten und genie-
ßen die Abendsonne auf der Terrasse. Entgegen unseren Erwartungen ist die Hütte nicht voll belegt. Nach einem
guten Abendessen (HP 65 €, Teewasser 7 €) versuchen wir früh in den Schlaf zu kommen.
Frühstück um 1 Uhr – für mich ein neuer Rekord! Um der Hektik einiger Gruppen zu entgehen, starten wir in der
2.Hälfte der Gipfelstürmer und können uns gut an den Stirnlichtern vor uns orientieren. Der Aufstieg zur Tacul-
Schulter ist sehr steil. Da eine Schneebrücke gebrochen ist, führt eine Umgehung mitten durch eine Spalte.

Eine weitere Spalte wird mit Hilfe einer 2-teiligen Leiter überwunden. Die Spur führt hinauf bis auf ca. 4200 m,
danach folgt der Abstieg in den Col Maudit (4035 m). Der anschließende Aufstieg zum Übergang am Mont Maudit
hat es in sich; im 2.Teil ist der Schnee so hart, dass wir uns auf allen Vieren hocharbeiten. Hier kommen uns
auch die ersten Umkehrer entgegen. Richtig hart wird es direkt im letzten Anstieg; die Blankeispassage ist zwar
durch ein Fixseil entschärft, ist aber auch trotz Einsatzes einer Steigklemme noch sehr kraftraubend. Am Col
angekommen (4345 m) können wir die Stirnlampen ausschalten und uns beim anschließenden Abstieg in den
Col de la Brenva (4303 m), wo uns die ersten Sonnenstrahlen erreichen, erholen. Als es steil durch die Mur da la
Côte geht, macht sich bei Michael die Höhe bemerkbar. Vorbei an den Petits Rochers Rouge (4577 m) geht es
weiter steil bergauf. Hier kommen uns die ersten Bergsteiger vom Gipfel entgegen. Die Abstände zwischen den
Erholungspausen werden kürzer – doch dann stehen wir um 8 Uhr auf dem höchsten Punkt der Westalpen! Zum
Glück ist es nur leicht windig und nicht sehr kalt. So können wir zusammen mit einem Pärchen aus Colorado
diesen Moment in vollen Zügen genießen und haben bei strahlend blauem Himmel eine fantastische Sicht.

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(Mont Blanc – Gipfel; Dirk Schulze
)

Da sich im Aostatal Quellwolken bilden, beginnen wir nach gut 30 Minuten Rast mit dem Abstieg und machen im
Windschatten der Roten Felsen eine kurze Essenspause. Aufgrund der Gewitterneigung und den Schwierigkei-
ten im langen Abstieg verzichten wir auf die Besteigung des Mont Maudit. Der Schnee ist inzwischen weich ge-
worden und teilweise stark zerpflügt, so dass in den steilen Passagen höchste Konzentration verlangt ist.
Obwohl wir beide schon reichlich kaputt sind, entschließen wir uns noch zur Besteigung des Westgipfels vom
Mont Blanc du Tacul (4248 m), von wo aus wir einen wunderbaren Blick auf die durchstiegene Flanke des Maudit
haben.

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(Nordflanke des Mont Maudit; Dirk Schulze)

Wieder im Vallée Blache angekommen ziehen dunkle Wolken auf und mit etwas Glück erreichen wir noch trocken
die Seilbahnstation. Das übliche Gedränge bei der Talfahrt nehmen wir nach diesem erlebnisreichen Tag gelas-
sen hin, ebenso die einstündige Wartezeit in der Mittelstation wegen des Gewitters und auch den Gewitterregen
in Charmonix, durch den wir zum Auto müssen.
Nach diesen Traumtouren machen wir uns am nächsten Tag auf ins Rhônetal, wo Michael den Zug nach Hanno-
ver nimmt und ich auf meine Frau warte, mit der ich einige 4000er in der Monte Rosa besteigen möchte.

Dirk Schulze, FÜL Bergsteigen