Die Freude an der Körperbeherrschung beim Klettern aus Sicht einer an MS Erkrankten
Mein Körper, der Teil von meinem Ich, den ich mir als Gesunde in jungen Jahren mit nicht unerheblichen Mühen erobert hatte, der in meinem Beruf eine wichtige Komponente und künstlerisches Ausdrucksmittel geworden war, versagt mir seit einiger Zeit durch die Krankheit MS zunehmend seine Dienste. Ich bin richtig böse auf ihn geworden. Deshalb will ich immer wieder wissen, was er noch bereit ist zu leisten. Das heißt, ich stelle mir die Frage, wie weit ich meinen Körper noch fordern und beherrschen kann. Eigentlich steht das Gesamt meiner Selbstbeherrschung zur Disposition; denn sie ist Voraussetzung für das Ich, wenn es aktiv gestaltend und aufbauend am gesellschaftlichen Leben teilhaben möchte.
Körperbeherrschung heißt, sich unbeeinflusst - beispielsweise vom Streben nach Sieg oder Rekord - auf sich selbst zu konzentrieren, so dass während einer zielgerichteten Bewegung ein harmonischer Ausgleich zwischen Spannung und Entspannung stattfinden kann. Dazu ist zu lesen, dass die Herrschaft über die Bewegung nicht durch Tun, sondern durch Unterlassen gewonnen werde, also die Hingabe an die Sache wichtiger sei als das willentliche Einwirken auf die Bewegung. Das Sich-bewegen-können bedeute vollkommen improvisieren zu können.1 Klettern ist das beste Beispiel dafür. Da geht es um das Ruhen in der eigenen Mitte, die Suche nach Stand- und Haltepunkten unter immer neuen Bedingungen, Koordination von rechts-links und oben-unten sowie um den flexiblen Wechsel zwischen unterschiedlichen Spannungszuständen in wechselnden Tempi.
1 Jacobs, Dore (1962): Die menschliche Bewegung. Ratingen. S. 104 und 133.
Vor gut drei Jahren habe ich an einem Schnupperkurs „Klettern“ teilgenommen, weil ich nach einem mir noch unbekannten Bewegungsangebot suchte. Frank, ein Physiotherapeut, empfing uns wachen Blickes in seiner mit einer Kletterwand ausgestatteten Praxis; er strahlte eine angenehme Ruhe aus. Nach einer kurzen Einführung konnten wir einzeln durch ihn am Seil gesichert einen ersten Kletterversuch starten. Ich war sehr aufgeregt, hatte Respekt vor der hohen Wand mit den bunten Griffen und eine große Portion Angst vor meinem eigenen Mut. Aber Frank signalisierte mir, Du kannst machen was, wie und wie lange Du es willst. Das kam mir sehr entgegen, denn ich wollte ja mit meinem Körper „spielen“. Schon nach etwa vier Metern war ich erschöpft und wollte zurück auf den Boden. Das Loslassen und Hinuntersausen überraschte mich und versetzte mich geradezu in Euphorie. Das wollte ich sobald wie möglich wieder erleben. Klettern gehört seitdem zum unumstößlichen Teil meiner Wochenplanung. Später folgte ich gerne Franks Vorschlag, in die Kletterhalle des Alpenvereins zu wechseln.
Als Teilnehmerin von „Klettern Spezial“ bin ich geradezu süchtig danach geworden, jede Woche bis unter die Decke zu steigen - je nach körperlicher Tagesverfassung mit mehr oder weniger Erfolg, aber aufs Ganze gesehen mit zunehmender Leistungssteigerung. Letztere wird ermöglicht durch die vollkommene Sicherheit des Gehaltenwerdens, die beispielsweise meinen gering gewordenen Gleichgewichtssinn ausgleicht, durch die eigene Strecken- und Tempowahl, durch die Lust am Spiel mit den vielfältigen Möglichkeiten der Körperwendungen, durch das koordinierte Greifen, Steigen und Entscheiden. Auch der soziale Aspekt spielt eine wichtige Rolle, also die Bewegung im Duo, die verbalen Aufmunterungen und Hilfestellungen der Betreuer sowie die Freude aller an den Erfolgen des Einzelnen. „Klettern Spezial“ hat mir geholfen, meinen kranken Körper im Wissen um die wahrscheinlich zunehmenden Einschränkungen zu akzeptieren und ich glaube, ihn wieder besser im Griff zu haben, eben etwas Körperbeherrschung zurückgewonnen zu haben.
Hannover, im Oktober 2020 Brigitte Steinmann